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Wer oft mit der Bahn fährt und besonders an großen Bahnhöfen aussteigt, sieht auch immer wieder ein Schild, das auf die Existenz einer Bahnhofsmission hinweist. Die meisten von uns werden wohl nur ein oberflächliches Wissen über diese Einrichtung haben. Unser Redakteur Norbert Kolz hat sich im Rahmen des AllgäuHIT SonnTalks mit der Lindauer Bahnhofsmission beschäftigt.
Interview: Norbert Kolz
Vor 125 Jahren in Deutschland gegründet, ist dieser Ort eine Anlaufstelle für Menschen aus allen sozialen Schichten, die sich dort Hilfe unterschiedlichster Art erhoffen. Oft ist es die letzte Anlaufstelle in ausweglosen Situationen. So wie die hilfesuchenden Menschen, die mit den Herausforderungen des Lebens kämpfen, so hat auch die Bahnhofsmission immer wieder zu kämpfen. Dieser Kampf betrifft aber die wirtschaftliche Existenz, denn die Bahnhofsmissionen finanzieren sich zu großen Teilen aus Spenden.
In der aktuellen SonnTalk-Ausgabe stellen wir diese Einrichtungen am Beispiel der Bahnhofsmission Lindau vor. Dafür Sprach AllgäuHIT Redakteur Norbert Kolz mit Conny Schäle, Leiterin der Bahnhofsmission in Lindau und Sigrid Pätzold, Geschäftsführerin von In Via in Augsburg.
Die Bahnhofsmission Lindau
Kolz: Wenn ich jetzt hier in Lindau die Bahnhofsmission finden will, dann sieht man sie gar nicht so offenkundig, man muss fast ein bisschen suchen.
Schäle: Ja, das stimmt leider. Ganz am Anfang gab es überhaupt nichts, was auf die Bahnhofsmission hingewiesen hätte. Dann haben wir mit Hilfe von einem Grafiker Plakate entworfen und diese in Schaukästen ausgehängt. Außerdem haben wir mit dem neuen Träger auch ein Schild an den Fahrradboxen aufhängen können und das ganz große Schild, das über der Bahnhofsmission selber hängt. Der vorherige Träger, die Diakonie Lindau, hat eine Beachflag organisiert, die wir aufstellen können, die bringt uns auch noch mehr Aufmerksamkeit. Es sind jetzt aber die ganzen Fahrradständer gekommen, durch die wir jetzt wieder ein bisschen mehr versteckt sind. Aber ich denke, wer Hilfe braucht und uns sucht, der findet uns auch.
Kolz: Frau Pätzold, sehen Sie das denn genauso?
Pätzold: Ja, aber grundsätzlich ist es natürlich schon so, dass die Bahnhofsmission in Lindau mittlerweile auch sehr bekannt ist. Vor allem in den Kreisen, die Hilfe suchen, hat es sich inzwischen auch herumgesprochen, wo die Bahnhofsmission zu finden ist – also an Gleis 1. Reisende, die Hilfe brauchen, können natürlich auch bei der Bahn nachfragen. Und die Bahnmitarbeiter wissen natürlich auch, wo wir zu finden sind und können Hilfesuchende auch zu uns lotsen.
Kolz: Es war ja nicht immer so sicher, dass die die Existenz der Bahnhofsmission in Lindau bestehen bleiben kann, nicht wahr?
Pätzold: Genau, so war es. Die Bahnhofsmissionen in Deutschland sind insgesamt in der Trägerschaft der evangelischen und katholischen Kirchen und natürlich auf Spenden angewiesen, sowie auf Mittel von Stadt und Landkreis. Die Finanzierung ist nicht immer einfach, muss man sagen. Wir können hier glücklicherweise kostenlos in den Räumen der Deutschen Bahn sein und zahlen auch keine Stromnutzungsgebühren. Aber es kommt immer wieder mal vor, dass es für einen Träger schwierig ist, die Finanzierung fortzuführen. Und deswegen ist dann vor ein paar Jahren die Trägerschaft von dem letzten Träger, der Diakonie Lindau, an uns als In Via Augsburg und die Diakonie Allgäu übergegangen.
Kolz: Hier im Falle von Lindau stellt die Bahn also kostenlos diese Räume zur Verfügung. Das ist ja auch schon eine Art Spende und Unterstützung.
Pätzold: Ja, genau. Also die Bahn ist da deutschlandweit sehr aktiv. Es gibt auch zum Beispiel eine Stiftung der Deutschen Bahn, die auch immer wieder Gelder ausschreibt für kleine Projekte, das sind auch ganz tolle Unterstützungsmöglichkeiten.
Kolz: Zu In Via Augsburg: ist das eine eigene Firma, die zur katholischen Kirche gehört?
Pätzold: In Via Augsburg ist ein katholischer Verband für Mädchen- und Frauensozialarbeit. Er ist bundesweit organisiert, also es gibt auch andere Verbände in anderen Städten und Orten. In Via ist auch in vielen Städten Träger der Bahnhofsmission, alleine oder gemeinsam mit der Diakonie.
Jede Spende hilft
Kolz: Ihr seid ja von Spenden abhängig, ist das auf Dauer nicht etwas kritisch, weil man ja nie kalkulieren kann, wie viel gespendet wird?
Schäle: Ja, die ganze Situation in der Bahnhofsmission ist immer kritisch. Seien es die Gäste, seien es die Räume, seien es die Bedingungen – und eben auch die finanzielle Situation. Dadurch, dass wir nichts produzieren, erwirtschaften wir auch nichts.
Pätzold: Zum Thema Spenden vielleicht noch der Hinweis: Wir bekommen großzügige Spenden von größeren Organisationen, von Privatpersonen, aber wir kriegen auch kleine Spenden. Es gibt auch manchmal Menschen, die Hilfe suchen und dann mal 2€ hierlassen. Wir freuen uns über jede Spende, egal ob es jetzt 2€ sind oder 1.000€. Das ist der eine Part, also die finanzielle Hilfe, die wir auch brauchen. Ohne die finanziellen Spenden könnten wir unsere Arbeit nicht machen. Wir bekommen aber auch Sachspenden, vom Schlafsack bis hin zur Suppendose.
Kolz: Was an dieser Stelle ganz klar auch schon der berechtigte Aufruf ist: Man darf gerne in der Bahnhofsmission vorbeikommen, wenn man diese Idee toll findet und durchaus auch hier etwas spenden.
Schäle: Da freuen wir uns natürlich immer sehr darüber. Außerdem kommt man so in Kontakt mit den Bürgern. Es knüpft sich auch oft ein Gespräch daran an, dass sich die Leute die Arbeit bei der Bahnhofsmission eigentlich ganz anders vorstellen. Die sehen dann mit eigenen Augen, mit welchen Menschen und Problemen wir hier zu tun haben.
Geänderte Situation durch Corona
Kolz: Hat gerade die Bahnhofsmission in Lindau aufgrund dieser Grenznähe im Vierländereck nochmal eine ganz besondere Situation und Position?
Schäle: Also es war zumindest vor Corona so, dass hier viele Leute aus dem Balkan, dem Schengenraum waren. Die haben sich hier dann auch zum Betteln hingesetzt. Wir hatten auch Fälle, wo Schleuser kamen, alle Menschen hier ausgesetzt und abends wieder eingesammelt haben. Leider gibt es das auch, das hat jetzt aber etwas nachgelassen mit Corona.
Kolz: Was erwartet einen denn, wenn man euch ehrenamtlich unterstützen will?
Schäle: Also die Arbeit in der Bahnhofsmission hat sich in den letzten Jahren sehr stark verändert, genau wie sich das ganze Klientel der Hilfsbedürftigen verändert hat. Das ist nicht nur bei uns so, sondern hat sich flächendeckend geändert. Damit meine ich jetzt nicht per se das aktuelle Weltgeschehen mit den Kriegen. Da sind wir nämlich nicht so sehr betroffen, das wird vom Land sehr gut organisiert hier in unserer Ecke. Wovon wir mehr betroffen sind, sind junge Leute, die psychisch verändert sind. Das wird auch immer stärker.
Kolz: Woran liegt es aber dann nach ihrer Einschätzung und Bewertung, dass gerade mehr junge Leute mit diesen schwerwiegenden Problemen zu ihnen kommen?
Pätzold: Also wir haben die Zunahme schon ein bisschen vor der Coronapandemie gemerkt, aber letztendlich hat es während Corona stark zugenommen. Eine mögliche Erklärung ist mit Sicherheit auch, dass durch soziale Isolation auch während der Pandemie bestimmte Probleme noch mal deutlicher hervorgetreten sind. Aber die Zahlen sind jetzt immer noch hoch, wir beobachten wirklich, dass diese psychischen Probleme zunehmen. Das hat mit Sicherheit auch sehr vielschichtige Gründe und da bin ich auch überfragt, alle zu nennen. Aber wir spüren hier auch eine Versorgungslücke, dass diese Menschen nicht so viele Anlaufpunkte haben, wie sie haben sollten.
Menschen aus allen Gesellschaftsschichten
Kolz: Handelt es sich bei den Leuten, die euch aufsuchen, zwangsläufig immer um Menschen aus den unteren sozialen Schichten?
Schäle: Nein, das tut es nicht. Ich habe hier zum Beispiel momentan immer wieder einen Arzt, einen Chirurgen, der auf der Straße lebt. Er hat starke psychische Probleme und ist nicht sehr kooperativ, fällt immer wieder auf. Die Bahn hat sogar bereits ein Bahnhofsverbot ausgesprochen. Für ihn hatten wir noch einen Notkorridor eingerichtet: reinkommen, essen, trinken, duschen und wieder gehen. Das geht zwei Tage, danach bleibt er sitzen und hält sich wieder hier auf. Jetzt hat er ein endgültiges Verbot. Wir müssen auch aufpassen, dass wir uns nicht selbst gefährden. Denn natürlich wissen wir nicht, wann ein psychisch veränderter Mensch aggressiv wird und ausflippt, womöglich Mitarbeiter oder Fahrgäste angreift.
Kolz: Warum geht denn jemand wie dieser Arzt, der ja doch allein schon wegen seiner medizinischen Ausbildung mehr Wissen haben müsste, nicht zu einer Einrichtung, die ihm professionell psychisch weiterhelfen könnte?
Pätzold: Zum einen sind wir eine niedrigschwellige Anlaufstelle, bei uns braucht man keinen Termin vereinbaren. Terminvereinbarungen stellen viele Menschen in dieser Situation schon vor Probleme. Der andere Punkt ist, dass wir die Hilfe anbieten, die die Menschen wollen oder fordern. Wir werden nicht an Stellen helfen oder Dinge anbieten, die der Mensch nicht will. Viele Menschen, die psychisch verändert oder psychisch krank sind, waren auch schon in solchen Einrichtungen, bleiben dort aber nicht.
Arbeit an der psychischen Belastungsgrenze
Kolz: Die Erwartungshaltung ist, bezogen auf die Bahnhofsmission, bei vielen Menschen eine ganz andere, als es sich dann in der Realität verhält – kann man das so sagen?
Schäle: Ja, denke ich schon. Deshalb machen wir, wenn sich jemand bewirbt, drei Probetage, wo derjenige einfach mitläuft und sich das ganze Mal anguckt.
Kolz: Auf die Grenzen der Hilfe der Bahnhofsmission angesprochen meinen Sie, Frau Schäle, dass die Grenzen ihre eigenen Nerven sind. Das bedeutet ja im Prinzip, dass diese emotionale, psychische Belastung jeden Tag so da ist, dass man in bestimmten Situationen dann schon an eine Grenze kommt und sagt: jetzt geht es fast nicht mehr.
Schäle: Ja, das Problem ist eben, dass die Bahnhofsmission zu niederschwellig ist, was aber auch große Vorteile hat. Wir können praktisch handeln, je nachdem, was wir draufhaben. Aber es ist eben auch so, wenn wir sagen, dass wir nicht mehr können – ich aber weiß, dass die Person irgendwo bei Wintereinbruch unter einem Baum schläft, weiß ich auch, dass da eine Gefahr besteht. Ich will aber niemanden irgendwo hin zwingen, kann ich auch gar nicht. Dann geht man über das, was man leisten kann, hinaus. Man lässt sich anpflaumen, man redet und redet und redet, wo man aber schon merkt, dass man nicht durchdringt. Wenn der andere nicht wenigstens ein kleines bisschen kooperiert, kann man nichts tun. Das ist sehr mühsam. Das nimmt man mit nach Hause. Wenn man geschult ist, kann man das dann auch wieder loswerden. Ich komme ursprünglich aus der ambulanten Pflege, habe gelernt, damit umzugehen. Aber ich bin nur ein kleiner Teil. Die Bahnhofsmission steht und fällt mit den Ehrenamtlichen – und sind in der Regel keine geschulten Fachkräfte.
Kolz: Die Bahnhofsmission ist also mehr als nur ein Raum. Es geht um die vielen helfenden Personen, ohne die das alles gar nicht möglich wäre.
Pätzold: Das ist genau der Punkt. Wir sind sehr froh, dass wir da Menschen haben, die sich dieser nicht immer einfachen Arbeit stellen. Und wir freuen uns natürlich auch über Menschen, die uns unterstützen wollen. Wichtig dabei ist, die Frau Schäle hat es vorhin schon angesprochen, man muss natürlich auch mit schwierigen Situationen und schwierigen Menschen umgehen können. Nicht jeder Mensch, der Hilfe sucht, ist immer angenehm.
Kolz: Es gibt jetzt ja auch nicht nur diese besonders schweren Fälle. Es kommt ja in der Mission auch oft vor, dass Leute hier nur einen Kaffee trinken wollen oder hungrig sind, bestimmte Adressen nicht wissen oder sich hier einfach nicht auskennen.
Pätzold: Da bewundere ich die Frau Schäle auch dafür, wieviel Zeit sie sich nimmt, um teilweise auch administrative Probleme der Menschen zu lösen, die hierherkommen. Wie viele Telefonate und auch wie viele Gespräche sie mit anderen Stellen führt.
Anerkennung für die Arbeit
Kolz: Schön zu hören oder zu lesen ist ja, dass nach der Landtagswahl in Bayern im Koalitionsvertrag Zwischen CSU und den Freien Wählern drinsteht, dass auch mehr für die Obdachlosen gemacht werden soll. Papier ist bekanntermaßen ja geduldig, sind Hoffnungen für sie damit verbunden?
Pätzold: Ja, insbesondere weil speziell in dem Koalitionsvertrag der Satz drinsteht, dass auch mehr Geld für die Bahnhofsmissionsarbeit zur Verfügung gestellt werden soll. Auf bayerischer Ebene würde das mehreren Bahnhofsmissionen zugutekommen. Wir wünschen uns jetzt, dass die Politik dieses Versprechen aus dem Koalitionsvertrag auch umsetzt. Wir haben glücklicherweise gute Kolleginnen und Kollegen auf Landesebene, die da auch nah an der Politik dran sind und bestimmt nicht aufgeben werden.
Kolz: Bei der Frage um Anerkennung für dessen, was sie hier tun: Erfahren sie die aus der Politik, der Gesellschaft und aus der Wirtschaft heraus?
Schäle: Oh ja, das tun wir. Also es gibt zum Beispiel eine Lindauer Firma, die ihre Mitarbeiter ehrenamtlich mit Lohnfortzahlung freistellt für uns. Der Lindauer Lions Club hat uns schon mehrmals im Jahr mit den Einnahmen des Adventskalenders bedacht. Dann gibt es die Schuldnerberatung, die hat auf einer Weihnachtsfeier Geld gesammelt. Und im Lindaupark beim Feneberg wurde eine Kooperation ins Leben gerufen, da können wir uns Suppendosen holen, immer wieder nach Absprache. Es gibt es immer wieder Leute im Hintergrund, die an uns denken und irgendwas organisieren, spontan etwas auf die Beine stellen und uns die Beträge dann bringen. Das ist wirklich sehr schön.
Kolz: Ich habe im Internet folgenden Satz gefunden: “Bahnhofsmissionen sind Einrichtungen der evangelischen und katholischen Kirche, daher fühlen wir uns der Botschaft des Evangeliums verpflichtet und verstehen uns als gelebte Kirche am Bahnhof.” Da kommt natürlich schon das Klerikale ganz klar zum Ausdruck. Wobei sie mir aber im Vorgespräch gesagt haben, dass sie ja hier nicht missionieren wollen.
Pätzold: Nein, der Eindruck soll auch auf keinen Fall entstehen. Wir sind offen für Menschen, egal welcher Konfession oder auch für die Konfessionslosen natürlich. wichtig ist aber, dass der christliche Grundgedanke uns bei der Arbeit trägt. Ohne diese Wertvorstellungen wäre jetzt die Arbeit für uns vielleicht so auch nicht möglich.
Bahnhofsmissionen als gesellschaftliche Seismographen
Kolz: Frau Pätzold, sie haben gesagt, dass ihnen jetzt noch etwas auf dem Herzen liegt. Was war das konkret?
Pätzold: Bahnhofsmissionen werden oft bezeichnet als Seismograph von gesellschaftlichen Entwicklungen. Das kann man insofern erklären, dass bestimmte Probleme, die in der Gesellschaft auftreten, zuerst bei uns als niedrigschwelligste Anlaufstelle sichtbar werden. Und auf der anderen Seite sind wir natürlich auch der Seismograph, der in unterschiedlichen Gegenden auch unterschiedlich “ausschlägt”. Das heißt, die Menschen, die in der Bahnhofsmission Lindau Hilfe suchen, sind andere wie die, die zum Hauptbahnhof in Berlin kommen.
Kolz: Wenn sie den Vergleich zu den Großstädten machen: gibt es hier in Lindau auch diese Drogenproblematik, mit der Bahnhofsmissionen in Städten wie Frankfurt, Stuttgart oder Dresden zu kämpfen haben?
Schäle: Wir in der Bahnhofsmission haben hier am Bahnhof eher kein Problem damit. Aber natürlich gibt es auch Drogenumschlagsplätze und Probleme damit in Lindau. Und natürlich kommen auch Leute zu uns, die Suchtprobleme haben. Aber nicht in diesem Ausmaß wie in der Großstadt.
Kolz: Frau Schäle, haben sie den Moment auch schon erlebt, dass jemand bei ihnen ist und sagt, ich hätte mir ja nie vorstellen können, dass ich hier eines Tages hier vor Ihnen sitze in diesen Räumen?
Schäle: Ja, das kommt häufig vor. Es sind dann oft eher schon Leute in den Fünfzigern, die damit nicht gerechnet haben, die aus ihrem normalen Leben rausfielen. Oft hören wir, dass zunächst die Partnerschaft auseinandergeht, dann kommt ein Alkoholproblem dazu, und dann geht der Job verloren. Dann sind drei Probleme auf dem Tisch und dann bricht alles zusammen. Die tun sich sehr, sehr schwer mit dem sozialen Abstieg, weil es eben in ihrem Lebensbild bis dahin nicht existiert hat.
Scham führt zu größeren Problemen
Kolz: Es gibt ja Kritiker, die behaupten, dass die jüngeren Leute heute nicht mehr das aushalten können, was zum Beispiel die Generation unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg auszuhalten hatte. Die sagen, dass die Menschen früher ja auch mit Schwierigkeiten zu kämpfen hatten.
Schäle: Früher haben die Menschen mit ganz anderen Dingen gekämpft. Das war die Nachkriegsgeneration, das kann man überhaupt nicht vergleichen mit heute. Und ein ganz großer Punkt ist auch, dass es damals kein Internet gab. Das, womit die jungen Leute heute geflutet werden, das müssen die verdauen – und das kann niemand, der nicht damit dosiert umgeht.
Kolz: Meinen Sie also, dass das Internet schon einer von vielen Punkten ist, der junge Menschen in solche schwierigen Situationen bringt?
Schäle: Nicht das Internet per se, sondern der Umgang damit. Wenn die jungen Leute alleingelassen werden mit dem Internet, dieses eine Ersatzfunktion in weiten Bereichen übernimmt, dann wird es gefährlich. Denn dann fehlen die Erfahrungen, die die Generation davor im Leben gemacht hat. Die jungen Leute haben auch einen ganz anderen Informationsinput, den hat die vorherige Generation nicht. Denn sie bekommen durch das Internet alles mit, aus jedem Winkel der Welt. Die ganzen Probleme, die sind ja ständig präsent.
Pätzold: Ich will noch ergänzen, dass abgehärtet sein letztendlich auch eher negativ ist. Viele Personen, die ein Problem bekommen, egal ob es jetzt sozialer, finanzieller oder gesundheitlicher Art ist, schämen sich oft. Das heißt, in Momenten, wo man noch Hilfe bekommen könnte, ist die Scham größer. Man sucht sich keine Hilfe und das ist schlecht.
Unterstützung mit der Fahrkarte
Kolz: Wenn man aus der Bahnhofsmission hier zum Fenster rausblickt, dann sieht man die blauen Züge von Go Ahead, das komplette Gleisbild des Lindauer Bahnhofs und viele Reisende. Wie oft werden sie von diesen nach Hilfe gefragt?
Pätzold: In erster Linie sind es momentan tatsächlich vorwiegend Hilfesuchende, die eine Tasse Kaffee, ein offenes Ohr oder auch mal etwas zu essen oder eine Dusche brauchen. Aber wir unterstützen natürlich auch Reisende. Die Reisehilfe hat sich jetzt in Lindau aber ein bisschen verändert, seit der Fernbahnhof Reutin existiert.
Kolz: Kommt es auch vor, dass Leute die Bahnhofsmission ausnutzen, zu ihnen kommen und jammern, dass sie keine Fahrkarte oder Geld für eine hätten? Was machen sie da?
Schäle: Das hatten wir auch schon so und da haben wir auch geholfen. Da haben die Leute gesagt, dass sie nichts haben und nicht mehr von der Stelle kommen. Sie meinten, sie überweisen es dann später. Das bewegt sich dann aber im Rahmen von einem Bayern Ticket oder Baden-Württemberg Ticket.
Kolz: Also derjenige verpflichtet sich, dass er ihnen das Geld zurücküberweist.
Schäle: Er sagt es, wir vertrauen darauf. Also so solvente Reisende, die machen das eigentlich schon. Diese Situation kommt nicht so oft vor, aber haben wir schon erlebt. Es ist natürlich eine große Freude, wenn auf einmal dann etwas überwiesen wird. Man denkt, ach guck, hat einer zurückgezahlt.
Kolz: In den ganzen Jahren, was war denn so ihr schwerster Fall?
Schäle: Da muss ich nicht lange zurückgehen, da würde ich gerade wieder auf diesen Arzt zurückkommen, der hier nach wie vor immer wieder auftaucht, trotz absolutem Bahnhofsverbot. Trotzdem lässt er seine Post hierherschicken, von seinen ganzen Gerichts-Geschichten.
Kolz: Darf man denn hier diese Adresse angeben für die Post, wenn man keine Wohnung hat?
Schäle: Man kann sich bei uns eine Postzustelladresse einrichten, da muss man aber ein Formular unterschreiben. Das gilt dann für drei Monate, dann nehmen wir die Post entgegen. Die Person muss aber erreichbar sein oder einmal in der Woche vorbeikommen.
Hoffnungsgeschichten aus der Bahnhofsmission
Kolz: Gibt es denn bei aller Traurigkeit und Ernsthaftigkeit dieser Themen dann auch mal Momente, in denen sie mit den Leuten auch lachen können?
Schäle: Lachen tun wir hier sowieso immer, wenn es geht. Es gibt natürlich auch Erfolgserlebnisse, wenn jemand wieder zurück findet auf seinen Lebensweg, wenn es wieder klappt mit Wohnung und Job. Manchmal können die dann auch bei uns ehrenamtlich mitarbeiten, auf die Art geben sie wieder was zurück und das freut einen schon, das ist natürlich sehr schön.
Pätzold: Ich glaube, ohne solche Erfolgserlebnisse wäre so eine Arbeit auch nicht machbar. Also man kann ja nicht immer gleich die ganze Welt verändern, aber wir freuen uns über kleine Erfolge genauso wie über größere. Das denke ich, ist auch etwas, was uns zusammenhält, auch mit den Ehrenamtlichen.
Kolz: Zum Schluss: Bald ist Weihnachten, was wünschen Sie sich für die Menschen?
Schäle: Dass jeder ein Stückchen mehr bei sich selber ankommt, nach dieser ganzen Zerstreuung und Ablenkung. Ich denke, die meisten Menschen haben noch so viel Gutes in sich, das erleben wir hier ja auch immer wieder von den Menschen, die spenden und helfen wollen. Es gibt so viele Menschen, die was Gutes tun wollen und die das in sich haben, ohne Gesetze, ohne Vorschriften. Dass auch die so ein bisschen mehr aufblühen und wirken können.
Kolz: Frau Pätzold, Schlusswort, Ihr Wunsch?
Pätzold: Dem kann ich mich nur anschließen. Ich würde mir einfach wünschen, dass wir alle friedlich miteinander umgehen – nicht nur in Bezug auf die Bahnhofsmissionen, sondern überall.
Geschrieben von: Redaktion