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Panorama

Berührende Einblicke in das Leben wohnungsloser Menschen in Kempten

today7. Oktober 2022 15

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Im Theater in Kempten (T:K) fand vor wenigen Tagen eine ganz besondere Veranstaltung statt: Die Zuschauerinnen und Zuschauer im vollbesetzten Saal erhielten Einblicke in die Lebenswelten wohnungsloser Menschen in Kempten.

Im Rahmen einer musikalischen Lesung rezitierte das sechsköpfige Ensemble Auszüge aus Interviews mit Bewohnerinnen und Bewohnern der städtischen Notunterkünfte. Die Interviews stehen im Zentrum des Magazins „Über den Tellerrand“, ein Projekt der Wärmestube mit Übernachtungsstelle in Kempten, das der Öffentlichkeit an jenem Abend eindrucksvoll vorgestellt wurde.

Fünf Stühle im Hintergrund, zwei in der Bühnenmitte und ein Konzertflügel, auf dem der Musiker Murat Parlak Lieder wie „Nowhere Man“ und „Que sera sera“ begleitete – das waren die einzigen Requisiten auf der ansonsten kahlen Bühne. Diese Reduzierung auf das Wesentliche unterstrich sehr passend die schwierige Lebenssituation der aus der Gesellschaft und vom sozialen Leben ausgeschlossenen Frauen und Männern, die ihnen ebenfalls keinerlei schmückendes Beiwerk erlaubt.

Die Schauspielerinnen und Schauspieler Paula Herzig, Roman Just, Hans Piesbergen, Corinne Steudler, Sebastian Strehler und Musiker Murat Parlak schlüpften jeweils paarweise oder zu dritt in die Rolle eines Interviewers und eines Interviewten – allesamt Menschen in besonderen Lebenslagen, die auf die Unterstützung der Wärmestube mit Übernachtungsstelle und/oder der Notunterkünfte in Kempten zurückgreifen. In den Dialogen erlaubten sie Einblicke in Teile ihrer Lebensgeschichten mit Enttäuschungen und Hoffnungen, in ihre Gedanken und Ansichten, Wünsche und Träume.

Mal waren es schöne, mal traumatische Erinnerungen ans eigene Elternhaus, die eigene Kindheit und Schulzeit. Einige der Berichte gaben den Blick frei auf Schicksalsschläge wie den frühen Verlust der Eltern, auf Misshandlungen, schwere Krankheiten und Drogensucht. Unerwartet, wie reflektiert die meisten der Schilderungen ausfallen, wie gut der Radar für angemessenes zwischenmenschliches Verhalten funktioniert, wie viel Wert die Betroffenen darauf legen, sich anderen gegenüber respektvoll und freundlich zu verhalten. Erschreckend, wie schnell Menschen durch einschneidende Erlebnisse aus völlig unauffälligen Lebenssituationen mit Wohnung, Familie und Beruf in die Obdachlosigkeit stürzen können. Bedrückend die spürbare Verzweiflung und Resignation, weil ein Ausweg oftmals nicht in Sicht ist. Erstaunlich, dass trotz allem bei einigen der Befragten auch Lebensfreude und eine gewisse Zufriedenheit ihren Platz finden – über die eigene Ungebundenheit und Freiheit, über Freundschaften und das Füreinander-Da-Sein in den Unterkünften.

Ein berührendes Beispiel hierfür sind Bine und Michi, die seit mehreren Jahren ein Paar sind. Bine ist an den Rollstuhl gefesselt, nachdem ihr erstes künstliches Hüftgelenk gebrochen war, sie sich beim Einsetzen des zweiten Gelenkes mit Krankenhauskeimen infiziert hatte und aufgrund dessen nach 22 Operationen seit nunmehr eineinhalb Jahren ohne linkes Hüftgelenk leben muss. Ob sie eine weitere OP bekommen wird, steht in den Sternen. Ihre Pflege übernimmt ihr Lebensgefährte Michi, der selbst seit einem Unfall mit gesundheitlichen Problemen und darüber hinaus mit einem Suchtproblem zu kämpfen hat. Inmitten aller Schicksalsschläge sind die beiden mit sehr viel Liebe und Dankbarkeit füreinander da.

Die fast zweistündige Vorstellung ging den Zuschauerinnen und Zuschauern – unter ihnen auch hochrangige Vertreterinnen und Vertreter der Stadt Kempten, wie Oberbürgermeister Thomas Kiechle, 3.Bürgermeisterin Erna-Kathrein Groll oder Thomas Baier-Regnery, Leiter des Referats Jugend, Schule und Soziales – unter die Haut, umso mehr, als die realen Menschen hinter den Geschichten, also die Bewohnerinnen und Bewohner der Notunterkünfte und Gäste der Wärmestube des BRK in Kempten, im Zuschauerraum anwesend waren.

Im Anschluss an die Vorstellung sprachen Amelie Lang, Leiterin der Wärmestube/Übernachtungsstelle des BRK Oberallgäu und Initiatorin des Projektes „Über den Tellerrand“ sowie die Schriftstellerin und Bestsellerautorin Krystyna Kuhn, die daran maßgeblich mitgewirkt hatte, über dessen Hintergründe und Werdegang. Sie schilderten die anfänglichen Vorbehalte der Teilnehmenden, die es nicht gewöhnt seien „zu erzählen oder dass man ihnen zuhört“, die später aber doch noch Vertrauen fassten und sich öffneten, sowohl in besagten Interviews, als auch im Rahmen eines Schreibworkshops mit Krystyna Kuhn, zweier künstlerischer Workshops mit der Künstlerin Iris Flexer an der Kunstakademie Allgäu sowie einer Fotosession mit dem Fotografen Martin Erd.

Die entstandenen Texte, Collagen und Fotos sind in dem 140 Seiten starken Magazin „Über den Tellerrand“ hochwertig aufbereitet. Umrahmt werden sie von Interviews mit Helferinnen und Helfern der Wärmestube, mit einem Sozialpädagogen des Bezirksklinikums Kempten, einem Mitarbeitenden der Straffälligenhilfe Allgäu sowie von wissenschaftlich fundierten Texten rund um das Thema Wohnungslosigkeit und Suchterkrankung.

Ein sozialer Stadtplan für Bedürftige Wohnungs- und Obdachlose fasst die entsprechenden Unterstützungsangebote in Kempten zusammen. „Die Idee war, den Unterstützern und Gästen der Wärmestube, den Bewohnern der Notunterkünfte und allen Helfern ein Gesicht zu geben und ihnen etwas zurückzugeben“, so Amelie Lang. „Dass diese Menschen ihre Geschichten voller Vertrauen mit uns teilen, ist ein Geschenk.“

Das Magazin „Über den Tellerand“ kann gegen eine Schutzgebühr von 10 Euro im Infoshop des BRK in der Haubenschloßstr. 12 in Kempten erworben werden. „Über den Tellerrand“ ist ein Projekt der Wärmestube mit Übernachtungsstelle des Bayerischen Roten Kreuzes im Kreisverband Oberallgäu. Es konnte mit Unterstützung der Margaretha- und Josephinen-Stiftung, des Kulturamtes Kempten sowie zahlreicher weiterer Unterstützer umgesetzt werden. Weitere Events sind geplant.

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Written by: Redaktion

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